Nittibuh
Wie Nittibuh nach Nittenau kam
In dem kleinen Gespensterinternat tief im Bayerischen Wald, wo Hex´ und Zauberer noch ihr Unwesen treiben, ging es im Jahr 2021 hoch her. Viele kleine Geister schwebten aufgeregt durch die Räume des alt ehrwürdigen Schlosses Drachenfels, den Unzählige haben auf diesen besonderen Tag gewartet.
Immer wenn eine Vollmondnacht auf einen Freitag, den 13. fällt, ist Zeugnisvergabe. Und dabei ist vor allem besonders die Abschlussklasse in höchster Aufregung, denn nach über drei Jahren Ausbildung und vielen bestandenen Prüfungen dürfen sie wieder zurück nach Hause, um dort als Haus-, Schloss- oder Burggespenst die Menschen zu erschrecken.
Alle fieberten schon seit Wochen der großen Abschlussfeier entgegen und alle freuten sich auf ihre Heimat… aber freuten sich wirklich alle? Ein kleines, etwas rundliches Gespenst saß an diesem Freitag, den 13. still in einer dunklen Ecke und große Krokodiltränen liefen über sein weißes Gesicht. Dort fand die Klassenlehrerin Fräulein Gruslig das kleine Wesen vor und zeigte sich besorgt: „Was ist denn los mit dir? Als unser Klassenbester müsstest du doch vor Freude tanzen und mit den anderen Geistern feiern. Stattdessen sitzt du weinend hier herum und bläst Trübsal.“
Schluchzend begann das kleine Gespenst zu erzählen: „Ach, ich bin ja das jüngste von 10 Gespenstergeschwistern und nachdem ein Teil unserer Burg eingerissen wurde, um Platz für einen
Freizeitpark zu machen, gibt es für mich keinen Platz mehr. Ich habe jetzt kein Zuhause mehr und weiß nicht, wo ich in den nächsten Jahren herumspuken kann.“
Fräulein Gruselig war außer sich: „Das ist ja schrecklich!“ Nach einer kurzen Pause veränderte sich allerdings ihr Gesichtsausdruck und ein breites Grinsen war plötzlich in ihrem Gesicht zu finden: „Mach dir keine Sorgen, ich habe eine Idee. Das wäre ja gelacht, wenn unser bestes Gespenst keinen Platz zum Spuken finden würde“, tröstete sie den Kleinen und schwebte in Richtung Direktorat davon.
Direktor Zitterbart, ein altes zerknittertes Gespenst mit Nickelbrille, fast so groß wie sein ganzes Gesicht, saß an seinem Schreibtisch und sortierte gerade die Zeugnismappen, als Frau Gruslig ohne zu klopfen in sein Büro stürmte. Er konnte über das Hereinplatzen gar nicht wütend werden, als er das Gesicht der Lehrerin sieht. Sie hatte einen rotangelaufenen Kopf und die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. Währenddessen lehnte sich der Leiter des Internats bequem in seinem großen Sessel zurück und lauschte gespannt den Erzählungen von Frau Gruslig.
Als die Lehrkraft zu Ende erzählt hat, nickte er nur und holte ein großes verstaubtes Buch aus der untersten Schublade seines großen Schreibtisches hervor. Er schlug das alte Werk auf und vertiefte sich in den Ausführungen. Dann begann er zu nicken: „Und sie meinen das klappt?“
„Da bin ich mir ganz sicher“, entgegnete die Lehrerin mit fester Stimme. Mit einem Augenzwinkern zeigte ihr Direktor Zitterbart, dass er mit dem Vorschlag einverstanden ist und überreichte ihr das Buch. Dieses schlug die überglückliche Frau Gruslig mit Schwung zu, sodass die Spinnweben nur so davonflogen und schwebte aus dem Büro.
Um Mitternacht war es dann endlich soweit. Alle hatten sich herausgeputzt, eine sah schöner aus als der andere. Nun saßen sie gespannt auf den Stühlen im großen Schlosssaal und warteten aufgeregt auf die Zeugnisübergabe. Das kleine Gespenst hatten sie ganz vorne zwischen Frau Gruslig und Herrn Zitterbart platziert. Es hatte nämlich die ehrenvolle Aufgabe als Klassenbester die Abschlussrede zu halten.
Bevor es aber richtig losging, durften ein paar richtig grauslig-gruselige Lieder vom Schulchor unter der Leitung von Obergruselwart Buh nicht fehlen. Dabei wurde das gute alte Gespensterlied „Mein Vater war ein Gespenstermann“ oder auch „Ganz in Weiß“ geheult.
Dann kam endlich der große Auftritt des kleinen Gespenstes. Unter tosendem Applaus betrat er die Bühne. Nach seiner anfänglichen Aufregung nahm er allen Mut zusammen und hielt eine Rede, wie sie noch niemand vor ihm gehalten hatte. Danach kullerten ihm ein paar Tränen über das Gesicht. Nicht nur, weil er traurig war, weil die schöne Zeit nun zu Ende ist, sondern auch, weil er nicht weiß, wie seine Zukunft aussehen wird.
Als Fräulein Gruselig das sah, sprang sie auf die Bühne und drückte den Geist sanft zur Seite. „Bevor es hier nun weitergeht, habe ich noch eine frohe Botschaft zu verkünden,“ begann sie, „liebes kleines Gespenst. Du warst in den letzten drei Jahren ein richtiger Musterschüler. Du hast alle deine Prüfungen mit Auszeichnung bestanden und auch gegenüber deinen Mitschülerinnen und Mitschülern warst du immer hilfsbereit und freundlich. Ein solches Ausnahmetalent sollte man nicht in irgendeine Burg stecken, wo es ab und zu ein paar Touristinnen und Touristen erschrecken kann. Deshalb habe ich ein ganz besonderes Angebot für dich.“ Mit großen Augen und weit aufgerissenem Mund verfolgte das kleine Gespenst ihre Worte. „In einer kleinen Stadt am Regen gibt es seit ein paar Jahren kein Stadtgespenst mehr. Das alte Gespenst Leopold von Hadriwa ging bei einer Vollmondnacht in Rente und seitdem ist diese Stelle unbesetzt. In diesem Ort gibt es zwei Schlösser, zwei Burgen, ein altes Burggut und ein paar alte Türme. Du hättest auch die Aufgabe, des Nachts für den Schutz der Bevölkerung zu sorgen und sie vor Feuer und Hochwasser zu warnen. Könntest du dir vorstellen dort das Stadtgespenst zu werden?“
Das kleine Gespenst war so verdutzt, dass es zuerst einmal gar nicht wusste, was es antworten soll. Im Raum war es so gespenstisch still, dass man eine Spinne hätte abseilen hören. Die Blicke der anwesenden Gruselwesen ruhten auf ihm und alle waren auf die Antwort gespannt. Überglücklich, aber immer noch etwas vorsichtig fragte das kleine Gespenst: „Und Sie meinen wirklich, dass ich das schaffen kann? Und wollen mich die Leute in ihrem schönen Ort?“
„Aber sicher“, entgegnete ihm Fräulein Gruselig: „Der Bürgermeister Benjamin Boml als auch die Bewohnerinnen und Bewohner würden sich sehr auf dich freuen.“
„Na wenn das so ist, dann nehme ich die Stelle natürlich gerne an“, entgegnete das Gespenst und besiegelte den Vertrag mit einem Handschlag. Die Erleichterung war bei allen groß und über den ganzen Abend verteilt fand man immer ein Lächeln auf seinem Gesicht. Nach dieser großen Überraschung wurden dann endlich auch die Zeugnisse verteilt und jedes Gespenst bekam den offiziellen Gespensterhut. Der Hut des kleinen Gespenstes hatte im Gegensatz zu den Hüten der anderen noch ein grünes Band mit gelber Schließe. Das waren die Stadtfarben seiner neuen Wirkungsstätte.
Nachdem das gesamte Internat bis zum Sonnenaufgang feierte, machten sich alle auf den Heimweg. Auch das kleine Gespenst hatte seine Koffer gepackt und nahm Kurs in Richtung Nittenau, seiner neuen Heimat.